Buen Camino
Die Werkzyklen des 1938 in Münster geborenen Künstlers Hans-Georg Dornhege, der in den 60er Jahren Mitglied der bekannten Berliner Ausstellungsgemeinschaft »Galerie Großgörschen« war, entstehen häufig im Zusammenhang seiner Reisen und mehrjährigen Auslandsaufenthalte. Und so war seine Pilgerreise zum Grab des Heiligen Jakob nach Santiago de Compostela in Nordspanien – dem so genannten Buen Camino – der Anlass, der ihn zur Konzeption dieser Bildserie anregte.
Unter dem Motto »GEHEN – STEHEN – LIEGEN« vereint der Künstler in einzigartiger Weise die unterschiedlichen Erfahrungswelten, die der Pilger – oder allgemeiner ausgedrückt – der Wanderer auf seiner Reise erlebt. Auf diese Weise findet sich der Jakobsweg in den einzelnen Bildern in drei verschiedenen Zuständen der Realität wieder:
Das »GEHEN« bezeichnet die Wanderschaft selbst. In Frottagen von Gullideckeln und in den farbigen Pilgerstempeln, die im Pilgerausweis die einzelnen Stationen festhalten, wird das Beschreiten des Jakobswegs als solches dokumentiert. Auch die Auswahl der Bildmedien und –techniken sowie das Format werden durch das Wandern bestimmt. Denn die Beschwerlichkeit der Reise erforderte eine radikale Gewichtsbeschränkung. Chinesisches Reispapier, das leicht, verletzbar aber dennoch widerstandsfähig ist, wurde auf eine Bogengröße zurechtgeschnitten, die mehrfach gefaltet genau auf DIN-A4-Format zusammengefaltet werden konnte. Ein Graphitstift für die Frottagen, Feder und Tinte für das Zeichnen ergänzten das Malerwerkzeug.
Das »STEHEN« bezieht sich auf das Festhalten der visuellen Impressionen durch das Zeichnen, das der Künstler im Sinne eines skriptualen Erfassens versteht. Die intuitive, mentale Reflexion des Gesehenen führt die Hand über das Papier. Hier wird die Vergangenheit als ein weiterer Realitätszustand gegenwärtig. In den historischen Bauten entlang des Jakobswegs, wie in den romanischen Kirchenbauten mit ihrem plastischen Bildschmuck und den gewaltigen Altaraufbauten, dokumentiert sich die Geschichte des Buen Camino. Durch den Akt des Zeichnens transportiert Dornhege die Vergangenheit in die Gegenwart, indem sie wie Spuren auf dem Papier Abdrücke einer vergangenen Zeit hinterlässt.
Das »LIEGEN« erklärt sich aus dem manuellen Druckverfahren. So wird bei der Frottage das Papier auf den Gullideckel gelegt und mit Graphitstift seine Oberflächenstruktur durchgerieben. Durch diese Herstellungsmethode werden – gewissermaßen als Nebeneffekt – die Witterungsverhältnisse als ein weiterer Einflussfaktor wirksam. Da das Wetter in Spanien im Mai 2008 außerordentlich schlecht war, wirken Stürme mit Wind und Regen sowie verschlammte Wege auf den Entstehungsprozess der Bilder ein und werden vom Künstler in die Komposition einbezogen. So vermischen sich Schlammpartikel mit dem Graphit und Regentropfen mit der Tusche.
In diesen drei Realitätsbezügen (dem Gehen, Stehen und Liegen) zeigt sich die konzeptionelle Idee, die neben Wirklichkeitsform und –wahrnehmung auch einen zeitlichen Aspekt thematisiert. Die Zeit wird dabei nicht nur in der Tuschezeichnung visualisiert, wie zum Beispiel in der Schematisierung der Gewändefiguren eines Stufenportals, sondern auch durch sie. Da die Tusche sich dem Graphit der Frottage verweigert, ist das Zeichnen oft sperrig und fast schroff – ein Effekt, der sich mit dem Verwitterungsprozess an Steinskulpturen gleichsetzen lässt. Auch die durch die Wetterbedingungen erzeugten Wasserflecken, Reibungen und Abnutzungen des Papiers sind ein sinnfälliges Zeichen für den zeitlichen Aspekt und die Beschwerlichkeit des Wanderns.
Im Zusammenklang wirken die durchgedrückten Gullideckel auf dem dünnen, stellenweise leicht zerknitterten Papier und die darüber gezeichneten Landschaftseindrücke wie alte Landkarten, in denen die einzelnen Bildebenen unterschiedliche Realitätsformen visualisieren: Die Frottagen als Abbild des Pilgerns, die Tuschezeichnungen als skriptuale Beschreibungen der visuell erlebten Eindrücke und die Einwirkungen der Witterungsverhältnisse veranschaulichen spannungsvoll den Buen Camino als mentale Repräsentation des real und kognitiv Erlebten. So handelt es sich bei diesem Werkzyklus nicht nur um eine bildhafte Dokumentation, sondern er bezeugt mit seinen Realitätsbezügen auch den Aneignungsprozess, den der Künstler auf seinem Weg erfuhr, und der beim Betrachten ins Bewusstsein rückt und so Nacherlebbar wird.